Erklärung des Wittenberger Stadtrates zur Relief-Tafel mit der Judensau an der südlichen Außenwand der Stadtkirche
Die Relief-Tafel mit der sogenannten Judensau an der südlichen Außenwand der Stadtkirche St. Marien ist eine plastisch-bildhafte Darstellung.
Der Umgang mit historischen Judensau-Darstellungen ist umstritten. Denkmalpfleger und Historiker wollen auch außerordentlich anstößige Motive als Zeitzeugnisse in ihrem damaligen architektonischen Kontext dokumentieren. Kritiker wollen diese Bilder entfernen lassen, weil sie mangelnde Sensibilität gegenüber den Gefühlen heute lebender Juden und mangelnde Abkehr vom Antisemitismus darin sehen.
Der Stadtrat der Lutherstadt Wittenberg betrachtet diese Darstellung im Kontext ihrer Zeit. Es ist ein steinernes Zeugnis einer vergangenen Epoche. Die Betrachtung bei der ausschließlichen Fixierung auf die Relief-Tafel mit der Judensau vermittelt aufgrund ihres antijüdischen Aussagegehalts einen befremdlichen Eindruck. Deshalb ist es nach unserer Ansicht notwendig, dass ein sensibler Umgang, verbunden mit der stetigen Aufarbeitung und Aufklärung stattfindet. Die Stadtkirchengemeinde Wittenberg trug und trägt diesem Anspruch in mehrfacher Hinsicht Rechnung.
1988 entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel aus Crivitz in Mecklenburg im Auftrag des Gemeindekirchenrats eine Gedenkplatte, die unterhalb des Judensau-Reliefs in den Boden eingelassen wurde, um auf die historischen Folgen dieses Judenhasses hinzuweisen: die Shoa. Das Relief stellt eine in Kreuzesform versiegelte Bibel dar. Die Texteinfassung zitiert in hebräischer Sprache den Psalmvers (Ps 130,1): „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ Mit den Worten des Berliner Schriftstellers Jürgen Rennert heißt es ergänzend: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Hamphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“
Als Zeichen der Versöhnung wurde im gleichen Jahr neben der Gedenkplatte von der Jungen Gemeinde der Stadtkirche Wittenbergs eine Zeder, ein Symbol Israels, gepflanzt.
Am 24. April 1990 stellte eine Synodalerklärung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg fest: „Sofern die Kunstwerke an ihrer Stelle verbleiben, sollte der Betrachter durch Hinweise […] auf Schuld und Betroffenheit der Kirche aufmerksam gemacht und zu neuer Sicht angeleitet werden.“
Seit 1996 findet direkt an der Gedenkplatte der Stadtkirche die jährliche Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus statt; ein Tag, der vom damaligen Bundepräsidenten Roman Herzog ins Leben gerufen wurde. Gemeinsam mit der Evangelischen Stadtkirchengemeinde Wittenberg, der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V., dem Landkreis Wittenberg und Schülerinnen und Schülern der Wittenberger Schulen erinnern der Stadtrat und die Stadtbevölkerung an das unendliche Leid, was der
2. Weltkrieg den Völkern unserer Erde, insbesondere aber den Juden Europas, angetan hat.
Wir, die Stadträte der Lutherstadt Wittenberg, sprechen uns für den Erhalt des Reliefs an der Stadtkirche Wittenberg aus. Das Relief der Judensau, die Gedenkplatte und die Zeder sind als Ort der Mahnung untrennbar miteinander verbunden. Dieser Dreiklang ist Erinnerung gegen das Vergessen und Erinnerung gegen die Wiederholung der deutschen Schuld. Dieser Gedenkort aus Stein, Bronze und Leben soll ein Aufruf sein, alles dafür zu tun, um eine Wiederkehr der Verfolgung und Ermordung von Menschen für alle Zeiten zu verhindern.